Natur

Der Marathon der Kuhdamen

Wie ein Feuerwerk steht der Alpabzug am Ende des Alpsommers. Es ist ein Tag der Wehmut und der Freude, für Älpler und Tiere gleichermassen. Ein Blick hinter die Kulissen auf der Alp Gental ob Innertkirchen.

07.11.2024

Wendy und Rivella stecken die Köpfe zusammen. Wie zwei gute Freundinnen scheinen sie miteinander zu tuscheln. Wendy baumelt eine riesige Glocke am Hals, Rivella trägt ein buntes Nasenband. Bald werden die zwei Kuhdamen noch schöner aussehen. Bäuerin Monika Strässle kommt mit einem prachtvollen Bauchgurt aus Blumen über die Wiese gelaufen. Sonnenblumen, Zinnien, Astern und Silberdisteln leuchten in den ersten Sonnenstrahlen, die an diesem Septembertag die feierliche Szenerie beleuchten. Es ist der Morgen des Alpabzugs von der Alp Gental hinunter nach Innertkirchen – das Ende des Alpsommers ist da, der Tag des Abschieds, der Tag des Danks, aber auch der grossen Emotionen bei Tieren und Menschen. Wendy und Rivella stehen am Zaun festgebunden vor der Alphütte, neben ihnen 45 Kolleginnen. Die beiden starten aus der Pole Position, denn sie gelten beim Alppersonal als besonders zuverlässig und geniessen in der Herde den nötigen Respekt. Noch etwas Anderes hat den Ausschlag gegeben, dass Wendy und Rivella vorausgehen dürfen. «Sie können besonders schön läuten», erklärt Älplerin Sabrina Reichenbach. Das bedeutet, dass die Glocke bei jedem Schritt tönt, sie schlägt immer an, schön regelmässigen im Takt, ohne dass ein Ton fehlt. Das ist längst nicht bei allen Kühen so. «Irgendeine Reihenfolge mussten wir machen, nun haben wir sie mal so eingeteilt, wie wir denken, dass es passt.» Diejenigen, die «ziehen» gehen vorab, meistens tragen diese Tiere auch die grössten Glocken. Die weniger sportlichen reihen sich weiter hinten im Zug ein. Und dann gibt es noch jene, die unerwarteter Weise nach vorne spurten. Wie bei einem Marathonlauf der Menschen zeigt sich die Dynamik erst im Verlaufe des Rennens.

Die «Züglete» ist der Höhepunkt des Alpsommers, für das Alppersonal, die Bauernfamilien und die Fans, die den Zug im Tal unten erwarten. Fredel Marty, Kassier der Alpgenossenschaft Gental, sagt: «Der Alpabzug ist eine Anerkennung für die Arbeit der Älpler. Wir haben eine super Crew, auf die wir sehr stolz sind. Ihnen verdanken wir viel.» Das Ereignis ist in Innertkirchen in den letzten Jahren zu einem Dorffest geworden – bei Einheimischen und Gästen gleichermassen beliebt. Alleine für die «Züglete» sind rund 40 Helfer im Einsatz, die die Älpler unterstützen. Im Tal stehen Dutzende weitere Helferinnen und Helfer bereit sowie die Kantonspolizei. Ohne sie wäre weder die Verkehrslage zu bewältigen, noch das eigentliche Fest im Dorf zu stemmen. Insgesamt nehmen die Kühe einen Weg von 15 Kilometern unter die Füsse, von der Alp Gental hinunter zur Sustenpassstrasse, über Wyler nach Innertkirchen und von dort weiter bis ins Urbachtal, auf die Voralp. Der Marsch dauert gut drei Stunden. «Nicht alle Kühe sind stark genug, um so weit zu laufen», erklärt Marty. Einige werden deshalb mit dem Transporter ins Tal gefahren, andere haben einen anderen Weg nach Hause. 

Unterdessen ist eine der Kolleginnen von Wendy und Rivella ausgebüxt. Sie wollte nicht länger warten und machte sich schon mal auf den Weg quer durchs Bachbett. Flugs sind einige Helfer bei ihr und bringen die Ausreisserin zurück auf den Vorplatz. Eine Kuh zerrt am Halfter, rutscht aus und landet auf den Knien, eine andere piekt mit den Hörnern ständig in Richtung Nachbarin und verbreitet Unruhe. An verschiedenen Stellen braucht es nun Kuhflüsterer, die die Tiere beruhigen. Die unterschiedlichen Charaktere zeigten sich schon beim Eintreiben von der Weide am frühen Morgen und bei den Putzaktionen. Einige der Kuhdamen schlurften friedlich vor sich hin, mit gutmütigem Blick und geduldiger Miene, andere hatten es eilig, drängelten und stupsten die Kolleginnen aufgeregt in die Seite. Die Tiere wissen genau, was heute auf dem Programm steht. «Wenn wir die grossen Glocken hervorholen, dann ist klar, was läuft», erklärt René Niederberger, der auf der Alp Ansprechperson Nummer eins ist für das Vieh. Der junge Bauer aus Dallenwil im Kanton Nidwalden erhält für den Alpabzug tatkräftige Unterstützung nicht nur vom Alpteam, zu dem neben Sabrina auch Daniela Bergmann und Dan Winkler sowie die Senner-Familie von Fredy und Maja Zbinden gehören. Auch Renés Vater Paul sowie weitere Kolleginnen und Kollegen sind da, um zu helfen. Ebenso verschiedene Bauern aus der Region. Die Trycheln hat Niederberger an verschiedenen Orten eingesammelt. «Die Glocken sind mein Stolz. Es sind ganz alte dabei, manche noch von Hand geklopft», sagt er.

Nach den Glocken binden die Helfer den Kühen die Gurten um und befestigen den Kopfschmuck, der aus Blumenbouquets oder geschmückten Melkstühlen besteht. Monika Strässle hat die Kunstwerke zusammen mit Helferinnen angefertigt. Die Arbeit nahm mehrere Tage in Anspruch. Strässle ist gelernte Floristin und weiss deshalb genau, wie sie die Disteln trocknen muss, damit sie die Farbe nicht verlieren, wie sich das Tannenkries am besten binden lässt und wie die Blumen in ihrem Gesteck noch etwas Wasser kriegen, bevor die abenteuerliche Talfahrt auf dem schwankenden Kuhkopf beginnt. Stets bedenken müssen die Bäuerinnen, ob sich der Schmuck überhaupt befestigen lässt und dazu noch so, dass es für die Kuh angenehm bleibt. Der Aufwand ist riesig, aber er ist auch Ausdruck der Freude und des Stolzes, Teil dieser bäuerlichen Bergwelt zu sein. «Ich mache das wahnsinnig gerne», sagt Strässle, «jedes Jahr freue ich mich auf die Vorbereitungen.» 

Unterdessen hat die Spannung zugenommen, gleich wird es losgehen. Die Wortwechsel erfolgen in immer kürzeren Zeitabständen, ins Gemuhe der Kühe mischt sich der Klang der Trycheln. Es liegt ein sanfter Ton in der Luft, er schwingt mit wie eine ferne Vibration, wie eine Verheissung. Paul Niederberger, der Vater von René, sagt: «Die Stimmung der Menschen überträgt sich sofort. Wenn die Helfer nervös sind, sind es auch die Kühe.» Seit 40 Jahren geht er z’Alp und weiss deshalb: Eine «Züglete» ist jedes Mal eine grosse Sache. Und: «Mit den Kühen lernt man einiges – über Tiere und über Menschen.» Die Älplerinnen und Helfer haben nicht nur die Tiere herausgeputzt, sondern stecken unterdessen selbst im Sonntags-Outfit. Sie tragen Edelweisshemden, leuchtend weisse Blusen oder «Chüjermutz». Vor dem Abmarsch versammeln sich alle vor der Alphütte. Senn Fredy Zbinden spricht ein Gebet und dankt für den unfallfreien Alpsommer. Er war für die Produktion der insgesamt elf Tonnen Alpkäse verantwortlich. «Jetzt müssen wir nur noch alle heil ins Tal bringen», murmelt René und verschwindet bald wieder zwischen den Kuhlaibern. Dann gibt er das Zeichen zum Aufbruch.

Wendy und Rivella schreiten freudig los, hinter ihnen reihen sich die Kolleginnen ein, dazwischen in regelmässigen Abständen verteilt die Helfer. Eine unbändige Kraft nimmt Fahrt auf. Schon nach wenigen Schritten ist klar: So ein Zug ist durch nichts und niemanden mehr aufzuhalten. Das raumgreifende Schellen der Glocken umfasst nun alles, breitet sich im Tal aus, rollt über die Berghänge und kriecht bis in die Magengrube der Menschen – und vermutlich auch der Tiere. Die erste Strecke verläuft mehrheitlich flach, entlang der Bergstrasse, die von der Engstlenalp kommt. Doch schon hier gibt es Kühe, die sich nicht einreihen wollen und nach vorne spurten. Da und dort tun sich Löcher auf zwischen den Sprinterinnen und den Bummlerinnen. Während die Helfer ihre zugewiesene Position einhalten, ist René überall gleichzeitig, rennt hin und her, um zu sehen, ob im hinteren Teil des Zuges alles in Ordnung ist, kommt dann wieder nach vorne, wo er versucht, einer Kuh den Kopfschmuck geradezurücken. Bald lässt er sich mit einem Sprung über den Zaun wieder zurückfallen, gibt Zeichen und Anweisungen. Das meiste geht im ohrenbetäubenden Geläute unter. Die Helfer begreifen ohne Worte. Sie achten konzentriert auf die Tiere. Am besten ist ohnehin zu reagieren, bevor es die Kühe tun. Denn kommt so ein Kuhlaib mal in Schwung, hält ihn auch ein bärenstarker Älpler kaum mehr in Schach. 

Auf der steilen Strecke nach dem Wagenkehr ist nur eines angesagt: bremsen. Die Herde ist wieder dicht beieinander, von hinten wird gedrückt und gedrängelt. Die Helferinnen und Helfer versuchen die Tiere zurückzuhalten. Sie breiten Stöcke und Arme aus wie Barrieren. Es ist, als würde eine laut läutende Lawine die Waldstrasse hinunterrollen. Eine besonders temperamentvolle, schwarzweiss gefleckte Dame lässt sich nur beruhigen, indem sie ihren Kopf mitsamt Melkstuhl am Rücken eines Älplers einparkiert. Mit einer solchen 1:1-Bremse versehen lässt sie sich von einem wilden Galopp abhalten, nach dem es ihr ganz offensichtlich zumute ist. Fortan trappelt sie einigermassen gesittet, wenn auch verdrossen talwärts. 

Ab der Einmündung in die Sustenpassstrasse erhalten die Kühe Polizei-Eskorte. Hier und dort stehen Menschen am Strassenrand und reichen den Älplern Getränke. Je näher die Karawane an Innertkirchen herankommt, desto mehr Leute säumen die Strassen. Im Dorf selbst stehen die Zuschauer dicht gedrängt, sie filmen, fotografieren und winken. Die Kühe und die Älpler sind die Stars der Stunde. An der Spitze erreichen Wendy und Rivella das Dorf, so wie es die Älpler vermutet haben. Später wird René sagen, dass er bereits im Tunnel vor Wyler Hühnerhaut bekommen habe. «Den ganzen Tag über sind so viele Emotionen im Spiel. Und wenn wir dann alle diese Leute sehen, ist das Gefühl einfach unbeschreiblich. Es gibt für uns Älpler keine schönere Anerkennung!»

Alp Gental

Jeweils am Nationalfeiertag vom 1. August bietet die Alpgenossenschaft für Gäste einen reichhaltigen Älplerbrunch. Der Alpabzug findet jeweils in der zweiten Hälfte September statt. 

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