Am Anfang darf man selber den Knopf drücken, der so schön bunt leuchtet und in der Seilbahn eine ganze Rochade auslöst. Die Türen schliessen sich, kurz ist es ruhig, dann schrillt die Glocke und gleich schwingt die Gondel mit einem sanften Ruck aus der Station. Die Bahn vom Grimsel Hospiz zur Oberaar funktioniert im sogenannten «Selbstfahrbetrieb», was so viel bedeutet wie: Jeder ist sein eigener Bähnli-Chauffeur. Hier kann man einsteigen, den Knopf drücken und abfahren, ganz ohne Fahrplan. Das Panorama, das sich vor den Fenstern der Bahn ausbreitet, ist von der ersten Minute an umwerfend. Schwerelos gondelt die Kabine über den See, die beiden riesigen, roten Kranen der Spitallammbaustelle werden schnell kleiner. Je weiter hinauf die Gondel fährt, desto mehr Bergspitzen tauchen auf. Mit jedem Meter erschliesst sich ein neuer Bergrücken, ein weiterer Horizont, gestaffelt in verschiedenen Farbtönen. Manche Felsgrate sehen so wild gezackt und surreal aus, dass man sich gut und gerne einen Spass daraus machen kann, den krassesten Felszahn aus der ganzen Reihe von verrückten Türmen und Nasen zu suchen.
Beim Kessiturm liegt die Zwischenstation. Hier heisst es umsteigen. Die zweite Etappe führt zunächst gemächlich über eine kunstvoll arrangierte Hochebene. Glatte Felsrücken wölben sich aus den Wiesenpolstern auf, hie und da trotzt eine Mini-Lärche dem Klima, kleine Bäche schlängeln sich durch die Herbstfarben und münden in Tümpel. Die Wasserflächen schimmern mal grün-moosig, mal braun. In Fahrtrichtung rechts erstreckt sich der endlos lange Grimselsee und bald wird der Blick frei zum Lauteraargletscher, der sich elegant gegen den See hinschlängelt. Dann plötzlich geht es schnell. Die Bahn rattert über den Masten am höchsten Punkt vor der Oberaar und schon liegt einem der nächste See zu Füssen. Die Oberfläche glänzt inmitten von einem breiten, offenen Hochtal. In der Ferne funkelt der Oberaargletscher, vorne setzt die Staumauer einen kräftigen, geschwungenen Abschluss. Schnell geht es abwärts, am Berghaus und der Oberaarstrasse vorbei, zur Station neben der Staumauer.
Nun ist es gewiss ein guter Rat, erst einmal nur zu schauen. Einzutauchen in diese besondere hochalpine Welt, so nahe und bequem erreichbar und doch in einer schönen Art etwas abseits von allem. Wer nicht schon längst geplant hat, muss sich jetzt entscheiden, wohin es gehen soll. Entlang des Oberaarsees führt ein angenehmer Wanderweg dem Gletscher entgegen, zuerst über die Staumauer und dann in sanftem Auf und Ab dem Wasser entlang. Dank der Anziehungskraft des Gletschers verfliegt die Zeit auf dieser Wanderung im Nu. Übrigens beginnt gleich nach der Mauer das Unesco Welterbe Jungfrau-Aletsch. Von der Staumauer aus in umgekehrter Richtung locken ebenfalls Wandermöglichkeiten, zum Beispiel über die Bäregg zum Trübtensee oder – etwas alpiner – über Bäregg, Trübtensee und Sidelhorn zurück zum Grimselpass. Auf dieser Strecke sind grandiose Ausblicke garantiert, allerdings auch ein paar Höhenmeter Aufstieg und unzählige Felsblöcke zum Herumkraxeln. Die Tour zum Sidelhorn gehört ohne Zweifel zu den Grimsel-Highlights schlechthin.
Die Oberaar erlaubt viel Genuss auch ohne sportlichen Effort. Die wenigen Zick-Zack-Kurven auf dem Weg von der Staumauer hinauf zum Berghaus Oberaar sind bei der Geniesser-Variante nicht gezählt. Das mächtige Haus im dicken Steingewand ist unschwer als kleine Schwester des Grimsel Hospiz zu erkennen und stammt aus der Bauzeit des Oberaarstausees Anfang der 1950erJahre. Auf der Terrasse lässt es sich wunderbar verweilen. Das Team im Berghaus Oberaar versorgt die Gäste mit den zur Landschaft passenden Gerichten, herzhafte Rösti beispielsweise, Käseschnitte, Alpkäse oder Kaffee und Haslikuchen. Die Berggipfel rundherum tragen das ihre zum wunderbaren Ambiente bei und verleiten dazu, über vergangene Zeiten nachzudenken. Die ersten «Touristen» in dieser Region waren Naturforscher, die mit viel Enthusiasmus die Bergwelt erkundeten. Sie kartierten alles, was ihnen unter die Augen kam, seltene Blumenarten, alpine Tierbestände oder der Zustand der Gletscher. Einige dieser Forscher haben ihre Namen an den Bergen zurückgelassen, so gibt es ein Scheuchzerhorn (nach Johann Jakob Scheuchzer benannt), ein Escherhorn (Arnold Escher von der Linth) oder ein Grunerhorn (Gottlieb Sigmund Gruner).
Lange vor dieser Zeit gehörte die Oberaar zum Alpgebiet der Gemeinde Törbel im Wallis. Das Dorf in der Nähe von Visp verfügte über zu wenig Alpland, weshalb die Burgergemeinde die Alp Oberaar 1514 von der Landschaft Hasli abkaufte. Fortan zogen die Törbjer mit ihren Tieren zu Beginn des Alpsommers über Visp, Goms und Grimselpass in die Oberaar. Mindestens drei Tage dauerten diese Alpaufzüge und längst nicht alle Tiere kamen heil an. 1948 kaufte die KWO die Alp zurück, kurz bevor die Bauarbeiten für den neuen Stausee begannen. Seither ist die Oberaar ein wichtiger Baustein im weit verzweigten Kraftwerk-System. Nun stellt sich natürlich die Frage, wo genau die unterirdischen Verbindungen verlaufen – wie passt sich diese künstliche Unterwelt in die Landschaft ein? Wo gehen die Stollen durch? In welche Kraftwerke fliesst das Wasser aus dem See? Überblick verschafft hier eine Tafel unten an der Seilbahnstation, doch vorerst heisst es Abschied nehmen vom Berghaus und seiner Chefin. Die Gastgeberin steht unter der Tür und strahlt: «Hier ist einfach alles ein bisschen anders – gestern hat es geschneit!» Alles sei etwas speziell, etwas einfacher, etwas langsamer, dafür garantiert unverfälscht und hochalpin. «Ich liebe die Oberaar». Recht hat sie. Dem Reiz dieser Landschaft kann man fast nicht entkommen. Bleibt also der Spaziergang hinab zur Bahn und die beschauliche Fahrt zurück zum Historischen Alpinhotel Grimsel Hospiz.
Berghaus Oberaar
Die Oberaar ist im Grunde genommen zu schön, um sie nach einem kurzen Besuch wieder zu verlassen. Wer über Nacht bleibt, erlebt den Abend und den Morgen im Gebirge – dann, wenn alle anderen Gäste bereits wieder im Unterland weilen. Im Berghaus Oberaar gibt es Doppel- und Mehrbettzimmer wie auch zwei Matratzenlager für 8 und 10 Personen. Die Saison ist kurz, sie beginnt auf 2'338 Metern über Meer normalerweise Ende Juni und geht bis Anfang Oktober.
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