Technik
Eine Expedition durch den Berg
Neben den gut sichtbaren Anlagen gibt es im KWO-Gebiet unzählige unterirdische Leitungen, Stollen, Kammern und Knotenpunkte. All dies muss unterhalten sein: Ein Besuch auf den Baustellen im Innern der Berge des Gadmentals.
17.10.2024 Author – Annette Marti Fotos – David Birri
Klapp – das Holztürchen öffnet sich und Franz Thöni krabbelt auf allen Vieren in das Leitungsrohr. Für einen Moment sind noch die Sohlen seiner Bergschuhe zu sehen, dann verschwindet der Anlageverantwortliche der KWO um die Ecke. Die kleine Türe ist ein provisorischer Zugang zu den unterirdischen Baustellen im Leitungssystem des Kraftwerks Hopflauenen zwischen Innertkirchen und Gadmen. Erstmals seit der Bauzeit Anfang der 1960er-Jahre werden nicht nur die Maschinen in der Zentrale, sondern auch die Leitungen und Aussenanlagen umfassend saniert. Die Baustelle erstreckt sich bis hinauf zur Wasserfassung bei der Bergstation der Triftbahn. Während mehreren Monaten sind die Leitungen im Winter wegen den Arbeiten stillgelegt worden und erstmals befinden sich nun wieder Menschen an Orten, die sonst nicht zugänglich sind. Nichts wie rein also in das Loch – folgen wir dem Weg des Wassers, wenn das schon mal möglich ist. Es geht umgekehrt zur Fliessrichtung talaufwärts: vom Kraftwerk zurück durch Leitungen, Druckschacht, Wasserschloss und Stollen bis zur Trift.
Kurz nach der engen Passage weitet sich das Panzerrohr auf. Franz Thöni kann nun aufrecht gehen. Ein Leuchtband erhellt die Leitung, die in unterschiedlichen Farben schimmert, bis sie sich weiter hinten im schwarzen Nichts verliert. Das Rohr ändert auf diesem Abschnitt mehrmals die Form und weist Abzweigungen auf. «Hier geht es zu den Turbinen.» Thöni deutet in einen Rohrstumpf, der verschlossen ist. Im Normalbetrieb drängt an dieser Stelle eine ungeheure Kraft in Richtung Laufräder und setzt damit die ganze Kaskade der Stromproduktion in Bewegung. Die Leitungen müssen diesen Belastungen standhalten. Alle 10 bis 15 Jahre werden sie kontrolliert und je nach Zustand unterhalten. Der grösste Gegner des Stahls ist die Korrosion. Die Rohre sind trotz ihrer massiven Bauart empfndlich. Franz Thöni tippt mit dem Zeigfnger auf den bereits geputzten Stahl. «Die Wärme des Fingers auf der blanken Oberfläche reicht, damit die Korrosion beginnt», erklärt er. «Und das ist das Letzte, was wir wollen: Rost, der in die Tiefe geht.» Verschiedene Schutzanstriche sorgen dafür, dass der Korrosionsprozess nicht so einfach eintritt. Zuerst müssen die alten Schichten mit Höchstwasserdruck entfernt werden, dann wird die Oberfläche durch Sandstrahlen aufgeraut, damit die neue Grundierung besser haftet.
Für die Bearbeitung des knapp 700 Meter langen Druckschachts, der hinauf geht zum Wasserschloss Spycherberg, kommt zum ersten Mal ein Sandstrahlroboter zum Einsatz. Der clevere Kerl soll den gesamten Prozess beschleunigen. «Das ist interessant, denn wir erhoffen uns natürlich, die Abschaltdauer des Kraftwerks verkürzen zu können», erklärt Thöni. Als Anlageverantwortlicher und Asset Manager der KWO vertritt er auch die Interessen der Aktionäre und weiss deshalb bestens, wie hoch der Ertragsausfall bei einem Produktions-Stillstand ist. Die Arbeiten werden im Winter gemacht, wenn weniger Laufwasser vorhanden ist. Sobald die Schneeschmelze eintritt, muss die Produktion jedoch wieder starten. Die Zeit drängt.
Zum Wasserschloss gelangen wir mit der Werkseilbahn Spycherberg, was deutlich angenehmer ist, als einen Druckschacht emporzuklettern. Franz Thöni will zusammen mit Philipp Schönbächler den Fortschritt bei der Installation des Roboters überprüfen. Schönbächler ist Geschäftsführer der Sandstrahlwerk First AG, eine Unternehmung, die auf Korrosionsschutzarbeiten spezialisiert ist und schon öfter im weit verzweigten Leitungssystem der KWO tätig war. Rund 160 Kilometer lang sind alle Stollen und Schächte im Susten- und Grimselgebiet zusammengezählt, allein 125 Kilometer gehören ganz dem Wasser. Da versteht es sich von selbst, dass praktisch immer irgendwo etwas zu tun ist.
Die Bahn überwindet mühelos die rund 450 Höhenmeter hinauf zur Bergstation. Tief verschneit und ruhig stehen die Bäume in ihrem Winterkleid. Das Kraftwerk wird schnell kleiner, mit ihm das weisse Zelt gleich daneben. Darin sind alle Installationen untergebracht, die für die Höchstwasserdruck-Reinigung und das Sandstrahlen nötig sind. «Es ist eine Materialschlacht», seufzt Schönbächler. Es dauert lange, bis alle Lüftungen und Klimaanlagen angebracht sind,
alle Bauplätze mit Strom und Wasser versorgt, Sickerleitungen gelegt sind und vieles mehr. Damit die Spezialisten in den Leitungen arbeiten können, muss die staubige Luft abgesaugt werden. So herrscht ein eigentlicher kleiner Orkan in den Röhren. Die Luft wird entfeuchtet und neu eingeblasen, um möglichst gute Arbeitsbedingungen zu schaffen. Trotzdem geht kein Arbeiter ohne spezielle Schutzkleidung und Helm mit Frischluftzufuhr in die Leitung.
Zum Druckschacht gelangt man von der Bergstation über eine kurze Strecke durch einen Stollen. Am offenen Schacht sind die Sandstrahl-Profs Dani Höfliger und Marian Gjoka damit beschäftigt, den Roboter zu justieren. Das Arbeitsgerät, das von der KWO und der Sandstrahlwerk First AG gemeinsam entwickelt und gebaut wurde, ist auf einem Arbeitswagen fxiert, der über eine Seilwinde langsam in den Schacht hinabgelassen wird. Drei Ärmchen mit Düsen rotieren hin und her und spritzen das Sandstrahlmittel auf das Stahlrohr. «Im Minimum schaffen wir 5 Zentimeter pro Minute», sagt Schönbächler. «Wir streben an, rund doppelt so schnell arbeiten zu können wie von Hand.» Bislang mussten sich die Arbeiter auf dem Wagen in den Schacht hinabseilen und den Sandstrahlschlauch stehend hin- und herbewegen – eine ermüdende Arbeit, vor allem, wenn man sie den ganzen Tag über verrichtet. Zwar fahren auch mit dem Roboter zwei Personen inden Schacht, der erste Arbeiter fängt das Strahlmittel auf und füllt es fortlaufend wieder in die Behälter, der zweite «reist» zur Sicherheit mit und säubert von Hand nach. Schönbächlers Arbeiter sind eine Art Putzequippe fürs Extreme. Zwar sieht niemand, was sie tun, aber würden die Arbeiten nicht gemacht, könnte eine Leitung im schlimmsten Fall bersten und der Schaden wäre riesig. «Ich arbeitete in der Schweiz schon in zahlreichen Leitungen», sagt Marian Gjoka, der seit 24 Jahren im Business tätig ist. An den Abgrund und die engen Platzverhältnisse habe er sich längst gewöhnt. Dani Höfliger sieht darin auch kein Problem: «Ist ja wie eine überdimensionale Rutschbahn so ein Druckschacht, unten läuft es sanft aus.»
In die andere Richtung verläuft die Leitung in einer scharfen Kurve zum Triebwasserstollen Richtung Trift. Hier befindet sich normalerweise eine Drosselklappe, die den Wasserfluss im Notfall unterbrechen kann. Das riesige Teil wurde zur Revision in die Werkstatt nach Innertkirchen gebracht. Ein Stück weiter im Stollen öffnet sich an der Decke ein grosses Loch, durch das eine Leiter hinauf ins Wasserschloss führt: in einen riesigen unterirdischen Raum, der untrennbar mit Triebwasserstollen und Druckleitung verbunden ist. Wenn nämlich die Maschinen unten im Kraftwerk zurückgefahren oder ausgeschaltet werden, wird der Bewegungsfluss des Wassers unterbrochen und die Wassermassen müssen irgendwie ausweichen können. Dies geschieht im Wasserschloss, hier «beruhigt» sich das Wasser. Jetzt hallen in der30 Meter hohen und 90 Meter langen Kaverne menschliche Stimmen wie in einer unterirdischen Kathedrale. Normalerweise regiert hier König Wasser und lässt Dampf ab, wenn seine unbändige Kraft gerade nicht gefragt ist. Verglichen mit den Dimensionen des Wasserschlosses, sind die Menschen winzig klein.
Vom Fusse der Leiter geht der Blick durch den schnurgeraden Triebwasserstollen in Richtung Wasserfassung Trift. In der Ferne brennt ein Licht. «Bis dahin sind es 4 Kilometer», erklärt Franz Thöni und startet das Elektrofahrzeug, mit dem man durch den Stollen fahren kann. Obwohl der Gang entleert ist, fliesst einiges an Wasser, das aus dem Berginnern stammt. Es spritzt auf beiden Seiten des offenen Wagens hoch und bald fühlt sich die Fahrt unfreundlich und kalt an. Dennoch ist dieser unterirdische Zugang wichtig. Üblicherweise erreichen die Arbeiter, die in den Anlagen an der Trift tätig sind, ihren Arbeitsplatz mit der Triftbahn und steigen dann zu Fuss durch enge Treppen und Gänge hinab zur Wasserfassung. Bei grosser Lawinengefahr oder starkem Wind kann die Seilbahn aber nicht fahren. Dann müssen die Mitarbeitenden ihren langen Arbeitsweg mit dem Elektrofahrzeug, das den netten Namen «Alex» trägt, zurücklegen. Sollte sich ein Unfall ereignen, würde ein Verletzter ebenfalls mit dem Fahrzeug abtransportiert werden.
Das weisse Licht kommt näher – es brennt direkt bei den Reservoirkammern der TriftFassung. Hier ist Montageleiter Peter Maurer und sein Team im Einsatz. Er bespricht gerade ein Problem mit Projektleiter Tilo Bolli. An diesem Tag ist sehr viel Wasser aus dem Berg in die Stollen und Kavernen eingedrungen, mehr als sonst üblich. Woher es genau stammt, weiss niemand, nur kommt es in dieser Zeit, da eigentlich alles Wasser von den Baustellen verbannt ist, höchst ungelegen. Das Team möchte weitere Pumpen installieren, damit die Korrosionsschutz-Arbeiten fortgesetzt werden können. Doch der Nebel hängt an diesem Morgen so ungünstig im Gadmental, dass der Helikopter kein Material anliefern kann. Die Fassung Trift ist einer der kompliziertesten Knotenpunkte im System der KWO. Hier wird Wasser von weit herum im Gadmental in zwei verschiedene Richtungen geleitet: entweder ins Kraftwerk Hopflauenen oder hinüber nach Guttannen in die aareseitigen Anlagen. Entsprechend finden sich in der Trift viele Panzertore, um Zugänge zu verschliessen, Vorrichtungen, um Wasser umzuleiten wie auch Installationen, die es ermöglichen, die Anlagen regelmässig durchzuspülen und zu säubern. Alle diese Stahlelemente müssen in aufwändiger Arbeit zerlegt, saniert und wieder eingebaut werden. Dabei fällt auch hier auf, wieviel sorgfältige Detailarbeit nötig ist, um das grosse Ganze am Laufen zu erhalten. Unsere Expedition endet nach einem unterirdischen Mittagessen in einer zur Kantine umfunktionierten Felskaverne und den 400 Treppenstiegen hinauf zur Bergstation der Triftbahn.