Technik
Herz-OP an einer Turbine
Ein Wasserkraftwerk ist ein hochkomplexes System, das viel Unterhalt erfordert. Im weitverzweigten KWO-Anlagesystem gibt es fast immer irgendwo etwas zu ersetzen und zu optimieren. Derzeit werden zwei Maschinen im Kraftwerk Hopflauenen auf Vordermann gebracht.
07.11.2024 Author – Annette Marti Fotos – David Birri
«Haben wir noch etwas Luft?» ruft Monteur Adi Zurbuchen und hält den Kran an. «Gut!», tönt es von unten. «Also auf!» Der Kran surrt wieder und zerrt beharrlich am Rohr, das an zwei dicken blauen Struppen am Haken befestigt ist. Zentimeter um Zentimeter bewegt sich das wuchtige Teil in die Höhe. Es ist das Ausbaurohr, das zum Düseneinlauf und dem Laufrad der Maschine 2 im Kraftwerk Hopflauenen führt. «Wir wussten nicht genau, wie schwer die Teile sind, die wir hier ausbauen», erklärt Chefmonteur Meinrad Infanger. Zwar seien die Komponenten in Plänen dokumentiert, aber das Gewicht sei nicht immer angegeben. «So ist es nicht einfach, den Schwerpunkt zu bestimmen und das Ding richtig an den Kran zu hängen.» Das Rohr kann nur ganz gerade angehoben werden, sonst verklemmt es. Noch kniffliger wird es, den Düseneinlauf herauszubekommen, das Teil also, über dessen Nadel der Wasserstrahl direkt aufs Laufrad schiesst. Es muss zuerst horizontal aus dem Loch des Turbinengehäuses herausgezogen und dann hinauf an die Oberfläche gebracht werden.
Die Demontage einer gesamten Maschine geschieht nicht alle Tage. Die Arbeiten sind Bestandteil eines grossen Erneuerungsprojektes im Kraftwerk Hopflauenen im Gadmental. «Es geht darum, die Sicherheit von Personen und Anlagen zu erhöhen», erklärt KWO-Projektleiter Thomas Heiniger, «gleichzeitig können wir die Verfügbarkeit der Maschinen verbessern und die Leistung steigern.» Das Projekt erstreckt sich über zwei Jahre und umfasst viele verschiedene Massnahmen, an denen Maschinen selbst, aber auch an vor- und nachgelagerten Prozessen. Das Kraftwerk Hopflauenen ist eingebettet in den gesamten Produktionsstrang des Gadmentals, hier wird Wasser von allen Talseiten verarbeitet. Die jetzt zerlegte Maschine wird unter anderem mit Wasser aus dem Triftgebiet gespiesen. Da kein Speichersee saisonale Schwankungen ausgleicht, funktioniert das Kraftwerk Hopflauenen wie ein Laufwasserkraftwerk – Strom wird also aufgrund der unmittelbaren Verfügbarkeit des Wassers produziert. Im Winter schieben die Maschinen in Hopflauenen eine eher ruhige Kugel, deshalb wird Maschine 2 im Winter zerlegt und wieder fit gemacht.
Wir benutzen alle Komponenten bis an ihr Lebensende und ersetzen nur, was wirklich nötig ist. Das verstehen wir unter nachhaltiger Instandhaltung der Anlagen.
Thomas Heiniger, Projektleiter
Ein Wasserkraftwerk ist ein hochkomplexes Gebilde, das laufend Unterhalt erfordert. Manche Bestandteile haben bereits viele Jahre auf dem Buckel und müssen ersetzt werden. Einiges verlangt auch nach modernen Lösungen. In der Elektrotechnik etwa sehen sich Kraftwerke heute Themen gegenüber, die früher unbekannt waren, zum Beispiel Cybersecurity. «Wir benutzen alle Komponenten bis an ihr Lebensende und ersetzen nur, was wirklich nötig ist», erklärt Thomas Heiniger. «Das verstehen wir unter nachhaltiger Instandhaltung der Anlagen.» Oft lässt sich Altes und Neues auch clever verbinden. Dabei kann die KWO auf das grosse Wissen zurückgreifen, das in verschiedenen Fachbereichen konsequent aufgebaut worden ist und das unter dem Begriff Grimsel Hydro auch externen Kunden angeboten wird. Die allermeisten Schritte des Erneuerungsprojektes können in-house gemeistert werden. Nur die Fertigung der zwei grossen, neuen Pelton-Laufräder für die Maschine 2 sprengt den Rahmen dessen, was in der Werkstatt in Innertkirchen möglich ist. Sie werden aus einem Rohling in einem Werk in Italien neu hergestellt, wobei die Entwicklungsingenieure von Grimsel Hydro ein wichtiges Wort mitreden bei der genauen Dimensionierung für «ihre» Maschine. «Die jetzigen Räder haben ziemliche Verschleissspuren», sagt Thomas Heiniger. «Wir gehen davon aus, dass sie nicht optimal ausgelegt sind. Durch eine verbesserte Geometrie erreichen wir eine wesentliche Steigerung des Wirkungsgrads.»
Vergleicht man ein Kraftwerk mit seinen vielen wichtigen Zusammenhängen mit einem menschlichen Organismus, so käme das Ausbauen des Düseneinlaufs ungefähr einer Herz-Operation gleich. Der Einlauf ist ein Schlüsselelement im Wassermanagement, denn darüber lässt sich die Menge des Wassers regulieren, das auf das Laufrad trifft. Meinrad Infanger steht im Turbinengehäuse gleich neben dem Laufrad und prüft eine Stelle im runden Loch, aus dem der Einlauf entfernt worden ist. Unter normalen Umständen werden genau hier die enormen Kräfte des Wassers für die Stromproduktion gewonnen. Den ohrenbetäubenden Lärm unter dem drehenden Laufrad kann man sich in der dunklen Kammer gut vorstellen. «Wir werden das Innenleben des Düseneinlaufs komplett neu fertigen», erklärt Thomas Borer, der für den hydromechanischen Teil des Projektes verantwortlich ist. «Der Durchlass muss grösser werden. Wenn wir die Strömungsgeschwindigkeit verändern, gibt es weniger Reibungsverlust.» Ein Zylinder bewegt sich im Einlauf vor und zurück und steuert so die Menge Wasser, die über die Nadel auf das Laufrad gelangt. Wie bei so vielen Bestandteilen der Anlagen geht es auch bei den Innereien des Düseneinlaufs um Millimeter, die zu einer Verbesserung führen.
Eine Leistungssteigerung der Turbine ist der eine Teil des Projektes, Verbesserungspotential liegt aber auch bei den Steuerungen der Maschinen. So wird etwa der Turbinenregler ersetzt, der bis anhin noch mechanisch funktionierte. Matthias Flück, der den elektrotechnischen Teil der Arbeiten unter sich hat, weist auf einen wichtigen Aspekt hin: «Wir statten beide Maschinen in Hopflauenen, die mit Triftwasser gespiesen werden, mit Primärregler aus. Das bedeutet, dass wir sie viel schneller ansteuern können.» Diese Flexibilität ist wichtig für die sogenannten Systemdienstleitungen, wenn beispielsweise die KWO angewiesen wird, mit Sofortmassnahmen das Stromnetz zu stützen. Gleichzeitig haben die Projektverantwortlichen auch im Hinterkopf, dass das Kraftwerk Hopflauenen dereinst Teil eines weiter ausgebauten Systems sein könnte. Falls sich das Projekt Speichersee Trift realisieren lässt, ist Hopflauenen mitten im Geschehen drin und die beiden «Trift-Maschinen» im Kraftwerk tun gut daran, in Form zu sein.
Zwei Monate später steht in der Werkstatt in Innertkirchen ein kniffliger Moment bevor. Die Bestandteile sind bereit, nun geht es darum, den neuen Düseneinlauf zusammenzusetzen. Das Führungskreuz, die Halterung für das Innenleben des Einlaufs, und das Düsenrohr, also die äussere Hülle, sitzen ganz satt. Deshalb muss das eine Rohr gekühlt und das andere gewärmt werden, weil sie sonst nicht ineinanderpassen. Die Montage-Crew hat das Führungskreuz mit 900 Kilogramm Trockeneis gefüllt und es draussen vor der Halle auf ungefähr minus 50 Grad abkühlen lassen. Derweil ist das äussere Rohr mit Heizlüftern gewärmt worden. Thomas Borer ist gespannt, ob alles rund läuft. «Wir haben bei den beiden Teilen einen Temperaturunterschied von ungefähr 90 Grad. Das sollte reichen, dass wir knapp einen Millimeter Spiel erhalten», sagt er. Meinrad Infanger, Steve Schneiter und Walter Rieder arbeiten zügig, aber ruhig. Mit dem Kran heben sie das Führungskreuz mitsamt Trockeneis in die Höhe und manövrieren es in das auf dem Boden stehende, äussere Rohr. Alles verläuft reibungslos. Die zwei Hüllen schieben sich ohne Mucks ineinander, nur das aus Löchern dampfende Trockeneis verrät das spezielle Vorgehen. Zwar wird hier eine sogenannte «Spielpassung» angewendet, bei einem insgesamt über 10 Tonnen schweren Ding ist die Handhabung dennoch knifflig. Sobald die weiteren Bestandteile eingebaut sind, können die zwei neuen Düseneinläufe wieder ins Kraftwerk gebracht werden – mit dem Lastwagen werden sie direkt in den Maschinensaal in Hopflauenen gefahren. Dann beginnt der zweite Teil der Operation: Das Einsetzen der neuen Organe am Patient Turbine, der fit sein soll für die Zukunft.