Technik

Im Untergrund der neuen Staumauer

Die Operation Spitallamm erfordert nicht nur den Einbau eines neuen Organs, der Staumauer, sondern auch die Verknüpfung mit allen wichtigen Zugängen des gesamten Systems. Dazu sind viele versteckte Arbeiten nötig.

07.11.2024 Autor – Annette Marti Fotos – David Birri

Aurélie Koch steht in einem zwei Meter hohen, schwarzen Loch tief unten im Berg. Wir befinden uns am Fuss der neu betonierten Staumauer in einem Leitungsrohr für den neuen Grundablass des Grimselsees. Ein Baustellenscheinwerfer erhellt eine rechteckige Öffnung im Hintergrund. «Dort vorne werden wir den Grundablass schliessen können», erklärt die Ingenieurin und zündet mit ihrer Stirnlampe zur Öffnung. Auf der anderen Seite, in Richtung Grimselsee, verliert sich der Stollen im schwarzen Nichts. Der Grundablass eines Stausees funktioniert wie der Stöpsel einer Badewanne. Normalerweise ist er mit einer sogenannten Schützentafel verschlossen. Nur in zwei Fällen wird der «Pfropfen» gezogen: Bei einem Hochwasser kann das Wasser durch den offenen Grundablass direkt ins Flussbett der Aare fliessen. Dies ist zentral für die Sicherheit der gesamten Anlage. Ebenso braucht es den Grundablass, um den Stausee vollkommen zu entleeren, wenn beispielsweise Revisionsarbeiten durchgeführt werden müssen. Dieses System ist nicht zu verwechseln mit dem Einlauf des Wassers zu den Kraftwerken, der sich beim Grimselsee an einer anderen Stelle befindet.

Ein leises Tropfen ist zu hören. Neben Dunkelheit und Kälte gehört auch Wasser zum Innenleben eines Berges. Und davon wird es an dieser Stelle mehr als genug geben, sobald die neue Staumauer an der Spitallamm in Betrieb geht. Aurélie Koch führt aus: «Hier, auf der Rückseite des Schütz wird immer Wasser sein. Da kann man in Zukunft nur noch hin, wenn der See entleert ist.» Jetzt kann man einigermassen gemütlich durch die Leitungen spazieren. Denn der Ablauf wird erst mit dem Seebecken verbunden, wenn der Grimselsee im Winter 2024/25 entleert ist. Dann kann das letzte Stück des Stollens ausgesprengt werden. Das Stahlrohr, durch das das Wasser künftig rauschen wird, wechselt seine Form von rund auf rechteckig kurz vor der Apparatekammer. Hier wird sich der gesamte Wasserdruck des Grimselsees versammeln und auf die Bauten einwirken – für die Planer und Baufachleute eine grosse Herausforderung. «Es braucht höchste Arbeitsqualität», sagt Bauingenieurin Koch, «die Stahlwasserbau-Fachleute müssen besonders sorgfältig vorgehen -  auch die Verbindung von Stahl und Beton muss gut stimmen.» Nur so können die immensen Kräfte des Wassers über die Bauwerke in den Fels abgeleitet werden. Koch kennt die Einzelheiten des Projekts, denn sie war als Mitarbeiterin des Ingenieurbüros IUB in Bern bereits während der vierjährigen Planungszeit direkt involviert. Dass sie den Sommer 2023 über als Bauleiterin an die KWO ausgemietet wurde, ist für sie ein Glücksfall. «Es war eine spezielle Planung», sagt die Freiburgerin und schlüpft durch die Öffnung in den Unterlauf des Stollens. «Es ist grossartig, dass ich nun auch bei der Umsetzung dabei sein kann. So sehe ich genau, wo Fehler passiert sind und was man besser machen könnte.» Ein Grundablass wird weder in der Schweiz noch sonst in Europa besonders häufig gebaut. Deshalb erachtet es Koch als besonders wichtig, Theorie und Praxis gut miteinander zu verbinden. «Man muss beide Seiten verstehen», ist sie überzeugt.

Das Schützengehäuse ist bereits eingebaut, wo das Wasser künftig zurückgehalten wird. Noch ist nicht alles zu Ende betoniert. Gleichzeitig müssen die Stahlbauelemente fertig geschweisst werden. Für die Stahlbauarbeiten ist Montageleiter Thomas Heuserer und sein Team der österreichischen Firma Künz zuständig. Heuserer erzählt, wie die Bauteile an ihren Bestimmungsort gekommen sind. Lastwagen transportierten die grossen Rohre bis hinauf zur Baustelle an der Grimsel und manövrierten dann durch den Zufahrtstunnel in den Berg hinein bis zur Apparatekammer. Mit einem Kran konnten die schweren Stücke von dort durch eine Öffnung in den Wasserstollen hinabgelassen werden. Das Hin- und Herschieben im unteren Stock erfolgte auf Schienen und mit einer elektrischen Winde. An den Schienen, die im Fels verankert sind, wurden die einzelnen Rohrstücke festgemacht und einbetoniert.

Enge Platzverhältnisse und exotische Baustellen sind für Heuserer und sein Team Alltag. «In den Stollen ist es immer eng», sagt er. Meist ist die Künz-Truppe irgendwo im Nirgendwo unterwegs, selten auf einer Baustelle, die so gut erreichbar ist, wie die Spitallamm. «Das hier ist Luxus», sagt der Montageleiter aus der Steiermark, «wir waren schon an ganz anderen Orten, zum Beispiel in Alaska, wo man nur mit dem Wasserflugzeug hinkommt und es darüber hinaus noch nicht mal Handyempfang gibt.» Dennoch ist auch der Grundablass der neuen Spitallamm-Mauer kein Kinderspiel. Herausfordernd ist, dass ein Schütz vor Ort und unter Druck gar nie getestet werden kann. Denn sobald Wasser im See ist, staut es sich auch im Grundablassstollen hinter dem Betriebsschütz. «Bei einem Schütz ist immer Ernstfall – die Teile sind deshalb bereits bei uns im Werk auf Herz und Nieren geprüft worden», sagt Heuserer. Hinzu kommt, dass solche Anlagen immer auf die jeweilige Situation massgeschneidert sind – es gibt keine Standardlösungen.

Wir arbeiten so, dass die nächsten 60 oder 70 Jahre niemand mehr den Stollen im Grundablass betreten muss

Thomas Heuserer, Montageleiter


Unterhalb des Schützenkastens beginnt der Unterwasserstollen. Von hier geht es nicht mehr allzu weit bis zur Oberfläche – das kleine, runde Loch mit Tageslicht ist von weitem zu erkennen. In den Stahlwannen sind hinter einer Plane zwei Arbeiter mit Schweissen beschäftigt. Sie sorgen dafür, dass die verschiedenen Stahlelemente des Abflusses niet- und nagelfest miteinander verbunden sind. In ihren Anzügen sehen sie aus wie Astronauten. Das Outfit schützt die Schweisser nicht nur vor dem Funkenregen, sondern über die spezielle Maske wird auch die Versorgung mit sauberer Luft geregelt. Die Partikel, die beim Schweissen frei werden, sind schädlich für die Lungen. Die Schweisser von Künz sind echte Profis, die über verschiedene Spezial-Prüfungen verfügen. Für praktisch jedes Rohr und jede Stelle braucht es eine bestimmte Zulassung – dies ist die hohe Kunst des Schweissens. «Es muss alles einwandfrei gemacht sein», erklärt Montageleiter Thomas Heuserer, «deshalb prüfen wir die Schweissnähte fortlaufend.» Sollte nur eine kleine Blase oder ein feiner Riss auftreten, heisst es, wieder von vorne zu beginnen. Wie bereits Aurélie Koch weiss auch Heuserer um die hohen Anforderungen an die Qualität. «Wir arbeiten so, dass die nächsten 60 oder 70 Jahre niemand mehr den Stollen im Grundablass betreten muss», stellt er in Aussicht. 

Und wozu dient der verbeulte Kochherd, der am Rande der unterirdischen Baustelle steht? Wie ein Botschafter aus einer anderen Welt verströmt der kleine Herd eine gute Portion Gemütlichkeit. «Der ist nicht zum Kaffeekochen», stellt Heuserer klar, «wir wärmen darin die Schweissdrähte.» Nicht die Temperaturen seien in den Stollen das Problem, sondern vielmehr die hohe Luftfeuchtigkeit. «Dieser Herd war schon auf einigen Baustellen», schmunzelt Heuserer – bei soviel Spezialwissen im Stahlwasserbau spielt ein simples Küchengerät noch eine Rolle! Kaffeekochen hin oder her – für Thomas Heuserer ist klar: «Ich liebe Baustellen wie diese, deshalb bin ich schon seit 15 Jahren auf Montage.» Bis das Wasser die Bauwerke im Grundablass auf die Probe stellen wird, dauert es noch ein Weilchen – ab dem 15. April 2025 gilt es ernst. Vorerst kann man die Baustelle noch zu Fuss verlassen, durch den dunklen Stollen bis an die Oberfläche. Und wenn man blinzelnd wie ein Maulwurf wieder ans Tageslicht kommt und den Kopf dreht, erhebt sich direkt über einem die Betonanlage und dahinter die neue Mauer, die schon weit gegen den Himmel gewachsen ist.

Aurélie Koch im Untergrund der Staumauer Spitallamm
Stahlwasserbau Staumauer Spitallamm
Stahlwasserbau Staumauer Spitallamm
Stahlwasserbau Staumauer Spitallamm
Stahlwasserbau Staumauer Spitallamm